Differenztheorie und Entscheidungen ohne Grund – Auf den Spuren der Metatheorie der Veränderung

„Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, bleibt zu Recht ein Sklave“ (Aristoteles) … aber wer Freiheit der Sicherheit vorzieht, wird dadurch noch lange nicht ein freier Mensch.

In meinem dreiteiligen Blogbeitrag möchte ich mich intensiver mit der Metatheorie der Veränderung von Klaus Eidenschink und seinem Team von Hephaistos befassen.

Teil 1: Annäherung: Weshalb Unsicherheit die Regel und Sicherheit die Ausnahme ist.

Wer sich tiefer auf das Denken und Forschen von Klaus Eidenschink einlässt, der wird wieder und wieder überrascht sein von den sich auftuenden Zusammenhängen, die sich aus zunächst unabhängig voneinander bestehenden aber vielleicht auch schon geahnten, gewußten oder gekannten Phänomenen ergeben. Hier geht es sowohl um anspruchsvolle (erkenntnis-)theoretische, philosophische wie auch praktische Ebenen, die dieses Wissen auf vielerlei Weise nutzbar machen können.

Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis, die dem Initiator der Metatheorie der Veränderung sehr am Herzen liegt und deren Trennung für ihn nur scheinbarer Natur ist, vergleiche ich gerne mit meinen Erfahrungen zwischen Musiktheorie und Harmonielehre auf der einen Seite und deren Umsetzung auf meinem Instrument, der Gitarre, auf der anderen: Verstandene und richtige Theorie klingt einfach und kann daher überzeugen

Auf meinem eigenen Erkenntnisweg ist mir Klaus vor mehr als 20 Jahren mit einem Beitrag in der Zeitschrift Gestalttherapie begegnet, in dem er zum Thema „Führen ist Stress“ schrieb (Gestalttherapie 2002, 16/2 – 16. Jahrgang – Heft 2 / 2002 Seite 3 – 20).

In diesem Artikel arbeitete er damals heraus, wie die Führungskraft bei der Befriedigung von seelischen Bedürfnissen (Autonomie, Bindung und Selbstwert, als Grundlage für Wohlbefinden) im Umfeld ihrer hierarchischen Führungsrolle in unausweichliche paradoxe Konstellationen gerät, die zu lösen Stress verursacht. Schon damals befand sich in diesem Artikel eine Denkfigur, die sich bis heute wie ein roter Faden durch seine fachlichen Beiträge zieht. Damals war einer seiner zentralen Begriffe die „Aporie“, eine wechselseitig aufeinander bezogene Polarität, in der jeder der beiden Pole untrennbar mit dem anderen verbunden ist, ohne diesen gleichsam gar nicht existieren kann. Als symbolische Veranschaulichung sei an dieser Stelle auf das Symbol von Yin und Yang verwiesen.

Diese Denkfigur – damals stand sie für mich im Unterschied zum einschränkenden „entweder – oder“ für ein pragmatisches „sowohl als auch“ als Horizonterweiterung im Erkenntnisprozess – hat Klaus in vielfältiger Weise ausgearbeitet und in ihrer Bedeutung für das Erkennen und Verstehen bis in die Tiefe, aber auch für das Gestalten und Beraten ausgelotet.

Grundlage dieser Denkfigur ist für ihn – wie ich später in einem seiner Vorträge lernte – im Unterschied zum, bis in die Gegenwart verbreiteten Denken der griechischen antiken Philosophie des Aristoteles, die Grundannahme von Heraklit. Während Aristoteles auf der Suche nach dem Guten, dem Schönen, dem Wahren und dem Einen war, ging Heraklit davon aus, dass alles im Fluss, in Veränderung sei („Panta Rhei“).

Für die Moderne erweist sich eine Orientierung an dem Denken Heraklits allemal angemessener, denn die rasant wachsende Komplexität unserer Welt lässt sich mit der Idee eines guten, wahren, schönen und einen, göttlichen Plans nicht mehr beschreiben, geschweige denn zufriedenstellend erklären.

Das Denken Heraklits, das sich sowohl in der Physik in der Relativitätstheorie Einsteins und der Quantenphysik Heisenbergs als auch in den spirituellen Grundsätzen des tibetischen Buddhismus wiederfindet, ist an Prozessen statt an Dingen oder Zielzuständen orientiert, geht von Veränderung anstatt von Zuständen als dem „Normalen“ aus.

„The Religion oft the future will be a cosmic religion. It will transcend a personal God and avoid dogma and theology. Covering both the natural and spiritual, it will be based on a religious sense arising from the experience of all things natural and spiritual as a meaningful unity. Buddhism answers this description. If there is any religion that can cope with modern scientific needs, it is Buddhism”.

Albert Einstein, a great scientist

(Bild aufgenommen in einem Kloster in Ladakh, 2003)

Es interessiert sich sowohl für die Frage, wie Veränderung verhindert wird (genannt Stabilität) als auch dafür, wie sie geschehen kann – ob gewollt oder gelassen. Werner Bock mein Lehrer für Gestalttherapie bringt es mit eigenen Worten so auf den Punkt: „Was ist darf sein und was sein darf verändert sich.“

Verfolgt man diese Gedanken weiter, kommt man ohne das Konzept der Paradoxie nicht weiter, also dem Zusammenspiel von gleichzeitigen, untrennbaren und aufeinander bezogenen gegensätzlichen Polen. Hier stieß ich im neuen Buch von Klaus Eidenschink und Ulli Merkes: Entscheidungen ohne Grund (V&R 2021) bei der Erläuterung dieser Pole auf folgende Textstelle, in der auch ein schönes Zitat von Stephan Baecker enthalten ist. Da heißt es: „Diese Pole sind nicht als binäre Gegensätze zu verstehen, sondern als negationsbedürftiger Zusammenhang (welch elegante Wortschöpfung ohne Treffer bei Google (!), d. A.): „Wenn man das eine will, kann man das andere nicht nicht wollen, obwohl eines dem anderen widerspricht“ (Baecker, 2020, S.71).“

Das Denken in Paradoxien, also in unauflöslichen Gegensätzen oder Widersprüchen bringt einen bei der Betrachtung und dem Versuch der Erklärung von Veränderungsdynamiken in eine gleichermaßen schwindelerregende wie paradoxe Situation: Es entsteht der Eindruck, als habe man einen erweiterten Horizont, der vieles mehr verstehbar und nachvollziehbar macht, gleichzeitig entsteht aber auch der Eindruck, im Verstehen noch mehr nicht verstehen zu erleben. Eine unbefriedigende Situation, die es zunächst einmal auszuhalten gilt, denn sie erhöht das Gefühl von Unsicherheit, das wir allzu gerne auf Abkürzungen zu vermeiden versuchen.

Unsicherheit ist eine zentrale Kategorie, die sich aus dem Ansatz von Heraklit und allen anderen Adepten der Differenz- und Prozesstheorie ergibt. Wenn alles in Veränderung ist, wenn es keinen absoluten Nullpunkt, keinen Anfang und kein Ende gibt, sondern sogar Zeit relativ ist (dazu später mehr), dann kann es auch keine absolute Sicherheit geben. Dann braucht es vielmehr ein Bewusstsein für Unsicherheit und eine Kompetenz im Umgang mit ihr.