Grenzsteintrophy 2021 – Eine besondere Grenzerfahrung

In der zweiten Junihälfte dieses Jahres habe ich mich auf eine Grenzerfahrung der besonderen Art eingelassen. Bis es soweit war, sind 12 Jahre ins Land gegangen und das war wohl auch nötig und gut so.

Gemeint ist die Grenzsteintrophy 20212 (GST21), eine self support bikepacking trophy entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, von Süden nach Norden, von der tschechischen Grenze bis auf den Priwall an der Ostsee. Die Trophy wurde von Gunnar Fehlau ins Leben gerufen, startet seit 2009 jedes Jahr am 17. Juni, dem Tag des Aufstandes 1953 in der damaligen DDR und verläuft auf dem ehemaligen Kolonnenweg entlang des Todesstreifens über 1.280 Km Länge und mit ca. 18.000 Höhenmetern.

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Besonders anspruchsvoll ist das Fahren auf der Lochplatte und das Bezwingen der steilen Rampen, bergauf wie bergab in den Mittelgebirgen Thüringer Wald und Rhön sowie dem Harzvorland Eichsfeld. Der Harz selbst schließlich erweist sich dagegen als vergleichsweise fair: bergauf ist bergauf und bergab ist bergab.

Dieses Erlebnis war in gleich mehrerlei Hinsicht eine Grenzerfahrung: eine historisch-politische, eine physische, psychische und eine existenzielle in einem.

Historisch-politisch war ich über 14 Tage mit dem Thema konfrontiert, das mir, Jahrgang 1961, noch durchaus lebhaft in Erinnerung ist: kalter Krieg, deutsche Teilung, Mauerbau, Stacheldrahtgrenze im Harz, Transitstrecke (Marienborn) bei Fahrten nach Berlin als Student,

Nachrichten über getötete Republikflüchtlinge … die GST21 führte mich an vielen Orten und Infotafeln vorbei, die diese Erinnerung lebhaft wieder auferstehen ließen. Absolut neu für mich war, dass der Edelstahl für den Grenzzaun seinerzeit von der BRD über Schweden in die die DDR geliefert worden ist. Nun eigentlich nicht überraschend für jemanden mit etwas (desillusionierter) politischer Lebenserfahrung und Sinn für systemisches und differenztheoretisches Denken. Trotzdem musste ich schlucken.

Auch Erinnerungen an die Zeit des Dritten Reichs waren für mich eine emotionale Grenzerfahrung: Der Track führte mich überraschend und unvorbereitet am KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte in der Nähe von Walkenried vorbei. Ca. 8. 000 Insassen zur gleichen Zeit mussten unter schlimmsten Bedingungen beim Ausbau der Untertagerüstungsfabriken in Mittelbau-Dora Zwangsarbeit verrichten.

Physisch war es eine Strapaze. Täglich 12 bis 14 Stunden im Sattel, 75 bis 100 Km über die Platte, Single Trails, Waldwege oder Sandboden (nach dem Brocken, dem höchsten Punkt der Trophy ist noch lange nicht Schluss) Streckenverläufe, die feinsten Achterbahnen glichen, ausgesetzt einem Wetterspektrum aus Hitze, Kälte, Gewitter, Regen. Das braucht Kampfgeist und ein klares Ziel vor Augen: ich wollte es schaffen und hatte mir bescheidene 14 Tage vorgenommen.

Psychisch war es von Anfang an spannend, was mich erwartet. Eine Mischung aus Meditation, Stresstest, Jakobsweg und Selbsterfahrung. Ab dem zweiten Tag fuhr ich allein. Alle anderen fuhren – mit einer Ausnahme – vor mir. Damit hatte ich gerechnet und das hatte ich mir auch insgeheim gewünscht. Ich wollte wissen, wollte „er-fahren“ wie es ist, mit mir allein dieses Projekt zu meistern. Einsamkeit war nicht das Problem, Angst auch nicht, Selbstmotivation zwischendurch schon eher. Und das Dilemma zwischen den beidem Ansätzen „Das Ziel ist das Ziel“ (Leistungsorientierung, ankommen ist alles) und „der Weg ist das Ziel“ (Achtsamkeit und Genuss, Offenheit für die Chancen und Risiken des Moments). Leider musste ich mich ständig etwas treiben, da ich die Zeit hinten raus durch Fahrradtickets zurück von Lübeck nach Göttingen begrenzt hatte und damit an vielen schönen Orten und Aussichten weiterfahren, wo ich gerne länger verweilt hätte.

Die wahre psychische Grenzerfahrung kam erst und unerwartet nach der Trophy. Erschöpfung, ein Erleben von Sinnlosigkeit, nachdem ich mich so lange auf die Tour vorbereitet und mich auf sie fokussiert hatte. Es hat etwa drei Monate gedauert, bis ich mich innerlich wirklich wieder sortiert und neu ausgerichtet hatte. Ich muss aber sagen … anders ausgerichtet und das ist ein Gewinn: Ich frage heute mehr nach dem Sinn meines Tuns und tue Vieles nicht mehr so selbstverständlich wie früher.

Womit ich auch zur existenziellen Grenzerfahrung komme. Hier habe ich sehr deutlich erfahren, wie sehr wir Menschen uns selbst einen Sinn (und Unsinn) geben (müssen), weil es den Sinn im Leben eben nicht gibt. ( Yalom). So sind wir aber auch frei zu wählen und uns auch immer wieder umzuentscheiden, wenn der Sinn nicht mehr stimmig ist, egal in welcher Lebensphase. Das gibt uns Freiheit, Freiheit, die schließlich auch ein Thema der Reise war, „Freiheit und Unfreiheit“ im Geist und in politischen Systemen.

Komme ich zum Schluss zu den überraschend schönen Dingen und Erlebnissen meiner Grenzerfahrung. Die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ist heute Naturschutzgebiet, das grüne Band. Ich habe mitten in Deutschland eine menschenleere, wunderschöne und abwechslungsreiche Landschaft mit Pflanzen und Tieren erleben dürfen: Wälder, Felder, Mittelgebirge, atemberaubende Fernsichten, ein tägliches Vogelkonzert, atemberaubende Sonnenaufgänge,

Rehe, Hasen, Waschbären, Füchse, Wildschweine, Greifvögel, … Ich habe von 14 Nächten 12 in der Natur und teilweise unter einem überwältigenden Sternenzelt geschlafen und ich bin trotz drei teils schwierigen technischen Pannen, nachmittags am 15. Tag am Priwall angekommen.

Das wäre nicht ohne die Unterstützung zahlreicher Freund*innen möglich gewesen, die mich tatkräftig physisch und mental unterstützt haben, die an mich geglaubt haben und von denen ich hier ein paar wenige nennen möchte. Allen voran Gunnar und dann aber auch Ludger, Josh, Carsten von Fahrrad Beckmann in Duderstadt, Bone von Bone-Cycle, Lübeck und Walter. Danke euch!