Im Mai 2022 erfülle ich mir ein besonderes Herzens-Projekt, dessen Bedeutung und Tragweite sich erst im Erleben zu erschließen scheint. Ich nenne es „Leben und Arbeiten in Berlin“: Für zwei Wochen habe ich mich in der Wohnung eines Freundes einquartiert, der in dieser Zeit seinem eigenen Herzensprojekt in Paraguay nachgeht.
Ich möchte erfahren, wie es ist, in Berlin zu leben und zu arbeiten und für mich klären, ob das für die nächsten Jahre meines beruflichen Wirkens eine reale Alternative zu Göttingen ist. Zu lange hatte ich diesen Traum und nachdem die Kinder groß und aus dem Haus sind, ist er inzwischen zu einer realen Möglichkeit geworden.
Anlässlich dieses Projekts war ich diese Woche an einem Vormittag in der Neuen Nationalgalerie an der Potsdamer Straße. Neugierig auf den, nach seiner Sanierung im August letzten Jahres wiedereröffneten Bau des Architekten Ludwig Mies van der Rohe und die Exponate zur Kunst des 20. Jahrhunderts war ich gespannt, was mich erwarten würde.
Auf ganz besondere Weise begegnete mir hier das letzte Jahrhundert mit seinen vielfältigen, gesellschaftlichen, Entwicklungen, seinen geistigen Strömungen und seinem ganz eigenen Lebensgefühl, seinem technischen Fortschritt und seinen politischen Kämpfen, einschließlich der beiden großen extremistischen Ideologien, in teils realistischer Darstellung, teils surrealer Verschleierung und Überzeichnung, stets gesehen und erlebt durch das Auge der Künstler:innen. Ich tauchte ein in die Betrachtung der Exponate, in das Betrachten selbst und erlebte für zweieinhalb Stunden auf sinnliche Weise den Lauf der Geschichte, im gleichzeitigen Vergessen der gegenwärtigen, weltpolitische Situation. Bis mir diese gegen Ende plötzlich wieder bewusst wurde und ich begriff, wie sehr sich in mir Vergangenheit und Gegenwart entkoppelt hatten. Plötzlich war da wieder eine Verbindung und damit auch eine innere Logik menschlicher Geschichte, einer Geschichte, die geprägt ist von permanenter Neuerung, Komplexitätssteigerung und dem Umgang mit selbiger bei begrenzten Möglichkeiten menschlicher Entwicklungsgeschwindigkeit.
Dass mir beim Verstehen dieser Logik die Kunst auf die Sprünge helfen kann, ist für mich neu gewesen, eine große persönliche Entdeckung! Eine besondere Koppelung von ästhetischem Wahrnehmen und intellektuellem Verstehen.
Und noch etwas ist mir aufgefallen: Der Prozess des konzentrierten, fokussierten und zeitvergessenen Wahrnehmens der Bilder und Exponate im Raum hat in mir eine Art Ruhe, Klarheit und Ordnung geschaffen, wie ich sie im alltäglichen Verarbeiten der Informationsvielfalt aus den modernen Medien, vorwiegend auf diversen Bildschirmen vermisse. Das wirft für mich zusätzlich die Frage auf, inwiefern nicht der Besuch von Orten der Kunst auch als Kompensation und Gegengewicht zur alltäglichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung im Sinne einer bewussten Persönlichkeitsentwicklung – auch im Kontext von Coaching – genutzt werden kann und sollte.