Pandemie – und kein Ende in Sicht?

Von Karl Valentin stammt der Satz: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“. Jetzt melde auch ich mich spät zu diesem Thema zu Wort, damit wir bald damit aufhören können.

Die Pandemie ist nicht nur eine virale und eine Angstpandemie. Sie ist auch eine Lehrerin, die uns, ihren Schüler*innen beharrlich fächerübergreifenden, erfahrungsorientierten Unterricht bietet. So hätte ich mir Schule früher gewünscht. Welche Fächer sind dabei? Erstmal Biologie, Chemie, Statistik. Dann aber auch Politik, Psychologie, bis hin zu Religion, eben das ganze Spektrum. Das richtige Leben lässt sich eben nicht in Fächer unterteilen, alles ist ineinander verwoben und der bisherige Umgang mit dieser globalen Krise zeigt uns, wie unzureichend wir auf sie vorbereitet waren.

Sie macht uns in drastischer Weise deutlich, wie die Organisation der Gesellschaft das Leben in seiner Komplexität einerseits handhabbar macht, vereinfacht und dabei gleichzeitig die Entscheidungsfreiheit des Individuums einschränkt. Schließlich basiert Organisation auf Entscheidungen und zweckgerichteter Komplexitätsreduktion (Vgl. Eidenschink, K. und Merkes, U.: Entscheidungen ohne Grund, Vandenhoeck und Ruprecht, 2021). Jede Organisation ist auch dadurch geprägt, dass sie Entscheidungsprämissen vorgibt, also nicht verhandelbare Bedingungen, die die Zugehörigkeit zu einer Organisation regeln (das wäre auf unsere Gesellschaft bezogen z.B. das Grundgesetz, aber auch die Zugehörigkeit qua Abstammung, eine deutsche Besonderheit). Wer sich an diese nicht hält oder ihnen nicht genügt, riskiert die Ausgrenzung. Auf diese Weise lässt sich der Selbsterhalt einer Organisation im Sinne von Maturana und Varela wie ein autopoietischer lebendiger Organismus beschreiben (Maturana, H.R. und Varela, F.J.: Der Baum der Erkenntnis, Fischer Taschenbuch, 2018, 7. Auflage).

Das interessante an Organisation und ihrer Dynamik ist eine paradoxe Doppelfunktion, die einerseits ihren Mitgliedern Wirksamkeits- und Handlungsspielräume ermöglicht, die über die ganz individuellen Möglichkeiten hinausgehen, gleichzeitig aber auch Handlungsspielräume einengt, um ihr eigenes Fortbestehen in der Zukunft zu sichern.  Das heißt konkret, es werden Freiheiten ermöglicht auf Kosten anderer Freiheiten.

Diese Freiheitsbeschränkungen lassen sich solange von den Mitgliedern ertragen oder in deren Unbewusstes verdrängen, wie sie subjektiv funktional sind, es deren Grundbedürfnisse nicht tangiert, sie einer rationalen Abwägung zugänglich und akzeptabel sind oder die damit einhergehenden unerwünschten Einschränkungen durch bereitgestellte Ersatzbefriedigungen kompensiert werden können.

In der aktuellen, globalen Pandemiesituation sind alle mehr denn je gefordert, sich dieser Wirkweise von Organisationsdynamiken und ihrer Konsequenzen bewusst zu werden, Geimpfte wie Ungeimpfte. Alle sind herausgefordert, sich der inneren Auseinandersetzung mit ihrer Haltung zum Dilemma Einzigartigkeit (Freiheit) und Zugehörigkeit (Beschränkung) zu stellen.

Diese Krise ist eine Herausforderung, die allerdings auch als Chance für die Menschheit und die Zukunft unserer Erde gesehen werden kann. Sie wird in Zukunft sehr wahrscheinlich noch oft und in verschiedenem Gewand auf uns zukommen, z.B. als Klimathema (in Form von Klimaerwärmung, Wasserknappheit) oder als moderner Kolonialismus (Migrationsbewegungen, erste gegen dritte Welt).

Wir kommen also nicht umhin, die Verbindung zwischen individueller Verantwortung und Bewusstheit bei der Verortung in der Gesellschaft und Weltgemeinschaft als globaler Organisationsform und -dynamik anzuerkennen und an der Entwicklung dieses Bewusstseins im Interesse der Humanität zu arbeiten.

Hierbei hilft die Pandemie als weltumspannendes Phänomen auch und besonders insofern, als sie uns über alle Grenzen hinweg betrifft und nicht erlaubt, die Solidarität aller Menschen und Nationen miteinander bei deren Lösungsfindung auszublenden. Denn so wird es keine nachhaltigen Lösungen geben.